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Die nachfolgend wiedergegebene Entscheidung kann über die Entscheidungsdatenbank des Bundesverwaltungsgerichts abgerufen werden.

 

Wir vertraten die Klägerin.

 

 

Leitsatz:

Kindergeld, das auf einen Jugendhilfebedarf
anzurechnen ist, kann sozialhilferechtlich nicht als Einkommen des
Kindergeldbeziehers angerechnet werden.  

Urteil des 5. Senats vom 21. Oktober 2004 BVerwG 5 C 30.03  

I. VG Trier vom 31.10.2002 Az.: VG 6 K 2/02.TR  

II. OVG Koblenz vom 24.06.2003 Az.: OVG 12 A 10627.03 

 

Bundesverwaltungsgericht

Im Namen des Volkes

 

Urteil 

 

 

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 21. Oktober 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt, Dr. Rothkegel ,
Dr. Franke und Prof. Dr. Berlit

für Recht erkannt:

 

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Juni 2003 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

I.

1 Die Klägerin bezog im Jahre 2001 für ihre in ihrem Haushalt lebende, 1988 geborene Enkelin Kindergeld (monatlich 270 DM). Ferner erhielt sie vom Landkreis T. Pflegegeld nach § 39 SGB VIII, das sich aus729 DM für die materiellen Leistungen für das Kind und 360 DM als pauschalierte Kosten der Erziehung zusammensetzte; auf diese Leistung wurde nach § 39 Abs. 6 SGB VIII das Kindergeld zur Hälfte angerechnet. Außerdem wurde der Klägerin von der Beklagten aufgrund geänderter Bescheide vom 7. März, 5. April und 6. Juli 2001 für die Zeit vom  

 

1. Januar bis 31. Dezember 2001 ergänzende laufende Hilfe zum Lebensunterhalt bewilligt; dabei rechnete die Beklagte das Kindergeld in voller Höhe an.  

 

2. Im Widerspruchs und Klageverfahren ist die Klägerin mit ihrem Begehren, ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt ohne Vollanrechnungdes Kindergeldes zu erhalten, erfolglos gewesen. Das Oberverwaltungsgericht hat ihrer Klage dagegen stattgegeben und die Beklagte für die Zeit von Januar bisDezember 2001 zur Zahlung weiterer Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von insgesamt 828,29 € (entspricht monatlich 135 DM) verpflichtet. Dies ist wie folgt begründet:

3 Die Klägerin sei Kindergeldberechtigte im Sinne von § 31 EStG. Anhaltspunkte dafür, dass sie das Kindergeld an ihre Enkelin weitergegeben habe, seien nicht ersichtlich, da sie zur Sicherstellung ihres eigenen sozialhilferechtlichen Bedarfs auf das Kindergeld selbst angewiesen sei. § 39 Abs. 6 SGB VIII sei (jedoch) eine von einem tatsächlichen Zuwendungsakt und einer sozialhilferechtlichen Bedürftigkeit der Pflegeperson unabhängige Fiktion der anteiligen Zuwendung des Kindergeldes an das Pflegekind bzw. den in Pflegebefindlichen Jugendlichen durch die Pflegeperson/Pflegeeltern. Die Anrechnung trage dem Grundsatz Rechnung, dass die Jugendhilfe nachrangig sei, d.h.staatliche Doppelleistungen für denselben Bedarf vermieden werden sollten. Es ergäbe sich deshalb ein Wertungswiderspruch zwischen dem Einkommensbegriff des § 76 Abs. 1 BSHG und der nach § 39 Abs. 6 SGB VIII zwingend vorgeschriebenen anteiligen Kindergeldanrechnung, wenn bei der Berechnung des sozialhilferechtlichen Bedarfs der Pflegeperson das Kindergeld in voller Höheals Einkommen berücksichtigt würde. Die Lösung des Problems einer faktischen "Doppelanrechnung" des Kindergeldes sei nicht im Bereich der Kinderund Jugendhilfe zu suchen; eine teleologische Reduktion des § 39 Abs. 6 SGB VIII dahingehend, dass die Vorschrift nicht anwendbar sei, wenn die kindergeldberechtigte Pflegeperson laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalteund das Kindergeld zur Deckung ihres eigenen Bedarfs benötige, sei nach Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte der Vorschrift nichtzulässig und würde in der Praxis dazu führen, dass das Jugendamt während der Dauer der Leistungsgewährung nach § 39 SGB VIII stets die finanzielle Situation der Pflegeperson/Pflegeeltern im Auge behalten müsste, um im Falle ihrer Sozialhilfebedürftigkeit von einer Anwendung des § 39 Abs. 6 SGB VIII abzusehen.

4 Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revisioneingelegt. Sie rügt die Verletzung von § 39 SGB VIII.

5 Die Klägerin und der Vertreter des Bundesinteresses verteidigen das Berufungsurteil.

 

II.

6 Die Revision ist unbegründet, so dass sie zurückzuweisen ist (§ 144 Abs.2 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung der Klägerin gegen dasUrteil des Verwaltungsgerichts im Einklang mit dem Bundesrecht (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) stattgegeben, weil das von der Klägerin bezogene Kindergeld auf ihren Anspruchauf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nicht in voller Höhe, sondern nur zur Hälfte anzurechnen ist.

7 Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats istKindergeld Einkommen im Sinne von §§ 76 ff. BSHG und als zweckgleiche Leistungim Sinne von § 77 Abs. 1 BSHGauf einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHGanzurechnen (vgl. BVerwGE 94, 326 m.w.N.; 114, 339 ). Durch Urteil vom 17.Dezember 2003 BVerwG 5 C 25.02 (NJW 2004, 2541) hat der Senat klargestellt, dass das Kindergeld sozialhilferechtlich Einkommen dessen ist, anden es ausgezahlt wird. Darum kann auf Kindergeld zugegriffen werden, indem esauf einen Sozialhilfeanspruch des Kindergeldbeziehers im vorliegenden Fall derKlägerin angerechnet wird. Darüber besteht unter den Verfahrensbeteiligten auchkein Streit.

8Für den Umfang, in dem nach § 11 Abs. 1 Satz 1 inVerbindung mit §§ 76 ff. BSHG Kindergeld als Einkommen des Kindergeldbeziehersangerechnet werden kann, ist zu berücksichtigen, dass § 39 Abs. 6 SGB VIII bereitseine hälftige Anrechnung von Kindergeld auf die laufenden Leistungen zumUnterhalt des Kindes oder des Jugendlichen anordnet; soweit das Kindergeldhiernach auf einen jugendhilferechtlichen Bedarf anzurechnen ist, kann essozialhilferechtlich nicht als Einkommen angerechnet werden. Es ist nicht derAuffassung des Verwaltungsgerichts zu folgen, wonach die Teilanrechnung desKindergeldes auf die Jugendhilfeleistung gemäß § 39 Abs. 6 SGB VIIIsozialhilferechtlich außer Betracht zu lassen ist, weil die Frage der Teilanrechnung im Verhältnis des Trägers der Kinder- und Jugendhilfe und derKlägerin zu klären sei; vielmehr ist dem Oberverwaltungsgericht beizupflichten,dass zur Vermeidung einer unstatthaften Doppelanrechnung des Kindergeldes eineteleologische Reduktion des §39 Abs. 6 SGB VIII mit der Folge, die Vorschrift nicht anzuwenden, wenn derBezieher des Kindergeldes hierauf für seinen eigenen notwendigenLebensunterhalt angewiesen ist, nicht zulässig ist.

9Beide Vorinstanzen gehen im Ansatz zutreffend davonaus, dass eine Mehrfachanrechnung des Kindergeldes (bzw. eines Teiles davon)sowohl auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz alsauch auf das Pflegegeld nach §39 SGB VIII auszuscheiden hat. Der Ausschluss einer "Doppelanrechnung"von Einkommen, wie er z.B. in der Regelung des § 87 Abs. 1 BSHG ausdrücklich angeordnet ist, entspricht auch schon bisheriger Rechtsprechung des Senats, wonach beim Zusammentreffen von Anrechnungsregelungen, die dieselbeSozialleistung betreffen, diese Leistung mit einer anderen Sozialleistung nurinsoweit verrechnet werden darf, als sie noch nicht aufgrund einer der beidenAnrechnungsregelungen "verbraucht" ist (vgl. BVerwGE 118, 297 zur Anrechnungvon Pflegegeld nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch auf Pflegegeld nach demBundessozialhilfegesetz auf der Grundlage von § 69c Abs. 2 Satz 2 BSHGeinerseits und § 69c Abs. 4Satz 2 Halbsatz 2 BSHG andererseits). Allerdings begründet das Gesetz fürdie Anrechnung von Pflegegeld nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuchausdrücklich einen Anrechnungsvorrang (vgl. § 69c Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2BSHG: "vorrangig … anzurechnen"); eine solche Bestimmung ist in § 39 Abs. 6 SGB VIII nichtgetroffen. Der Vorrang der in §39 Abs. 6 SGB VIII angeordneten Anrechnung gegenüber einemEinkommenseinsatz nach § 11 Abs. 1 Satz 1, §§ 76 ff. BSHG folgt jedoch daraus,dass § 39 Abs. 6 SGB VIIIdie speziellere Regelung darstellt. Was aufgrund dieser Vorschrift angerechnetwird, steht darum für eine Anrechnung aufgrund von § 11 Abs. 1 Satz 1, §§ 76ff. BSHG nicht zur Verfügung.

10Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, dieGerichtskostenfreiheit beruht auf § 188 Satz 2 VwGO.  

 

Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel Dr. Franke Prof. Dr. Berlit



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